«Maniac» bei Netflix: Diese Serie darf alles

Wenn demnächst wieder Bestenlisten geschrieben werden, wird «Maniac» dabei sein. Das Format mit Emma Stone und Jonah Hill entzieht sich Genre-Konventionen – und tritt so selbstbewusst retro auf wie kaum eine Serie zuvor.

Cast & Crew «Maniac»

  • Erfinder: Patrick Somerville
  • basiert auf einer norwegischen Serie
  • Darsteller: Emma Stone, Jonah Hill, Justin Theroux, Sonoya Mizuno, Gabriel Byrne, Sally Field u.a.
  • Regie: Cary Joji Fukunaga
  • Ausf. Produzenten: Patrick Somerville, Cary Joji Fukunaga, Michael Sugar, Jonah Hill u.a.
  • Produktion: Parliament of Owls, Rubicon TV, Anonymous Content, Paramount TV für Netflix
  • Folgen: 10 (je 25 bis 45 Min.)
Pille A. Pille B. Pille C.

Was zwei dubiose Mediziner versprechen, ist nichts weniger als die Heilung aller psychischen Probleme. Nur drei Tabletten braucht es, damit der Patient seine seelischen Wunden erkennt, konfrontiert und diese letztlich so umprogrammiert, dass sie nicht mehr schmerzen. Die ABC-Pillen sind nicht die neueste Form der Psychotherapie. Nein, sie wollen die Psychotherapie überflüssig machen.

Dass dabei vieles schiefgeht, verrät schon der Titel der Serie, die diese Geschichte erzählt: «Maniac». Hier stehen nicht zuerst die Wissenschaftler im Mittelpunkt, sondern die Teilnehmer einer medizinischen Studie, die den Erfolg der ABC-Pillen messen soll. So dubios die Idee der Heilung klingt, so dubios sind auch die Patienten, die sich auf das mysteriöse Spiel einlassen, vor allem: Annie, die abhängig ist von Pille A und nur aus Suchtgründen an der Studie teilnimmt. Und Owen, Sohn einer reichen Geschäftsfamilie und schizophren. Während die anderen Studienteilnehmer ihren eigenen Weg gehen, schienen Annie und Owen irgendwie miteinander verbunden.

Mithilfe der ABC-Pillen werden die Patienten immer wieder in ihre eigenen Träume und Albträume geschickt – dort treffen Annie und Owen unerklärlicherweise immer wieder aufeinander, als Ehepaar, als Komplizen, als Kämpfer für das Gute. Die Forscher in der echten Welt können sich nicht erklären, was da vor sich geht. Und Annie und Owen fragen sich irgendwann, ob es in ihren beiden kaputten Leben abseits aller wissenschaftlichen Hoffnungen so etwas wie schicksalshafte Fügung gibt.

«Maniac» vereint durch sein Konzept zahlreiche Genres und nimmt den Zuschauer mit auf verschiedene zutiefst unterschiedliche Mini-Geschichten. Denn neben der Story um die Studie erzählt die Netflix-Miniserie auch die Geschichten, die Annie und Owen in ihren Träumen erleben. In den Träumen also, die die ABC-Pillen auslösen und an deren Ende die Lösung aller psychischen Probleme stehen soll. Immer geht es um Herausforderungen, um Reisen zu einem besseren und stärkeren Ich. Am Anfang müssen die Probanden ihre schlimmsten Erinnerungen durchleben, nur um diese irgendwann zu „überschreiben“. Die ersten Träume sind nahe an der Realität, später wird es immer abgedrehter. Fantasy, 1940er Noir, Roadtrip, Pulp und Mobster-Erzählung – die Medikamente spielen wild mit den Synapsen von Annie und Owen, und wir sind dabei Zuschauer. Die Mini-Storys in dieser Miniserie werden dramaturgisch und visuell so großartig unterschiedlich in Szene gesetzt, dass man sich fast erschreckt, wenn es wieder zurück ins Labor geht, zu den „schlafenden“ Studienteilnehmern.

«Maniac» bei Netflix: Eine Geschichte, die nachhallt


Gleichzeitig kreiert die Rahmenhandlung um die medizinische Studie eine Welt, in der man sich ebenfalls verlieren kann. Es ist eine alternative Realität, in die wir hier eintauchen; eine Welt, die gleichzeitig in den 1970ern und 2030ern spielen könnte. Retro-futuristisch mag man das nennen, so ähnlich wie bei Kubricks «2001» oder dem ersten «Alien»-Film. Großartig ist, wie selbstbewusst diese Welt kreiert wird. Andere Serien, die in der Vergangenheit spielen, wirken oft zu bemüht darin, einen bestimmten Stil und Retro-Atmosphäre zu kreieren. «Stranger Things» wurde beispielsweise dafür kritisiert, zu sehr 80er-Stereotype zu reproduzieren. In «Maniac» dagegen geschieht das alles beiläufig, diese faszinierende Welt wird dem Zuschauer nicht aufgedrängt. Am Ende stehen Inhalte und Charaktere im Mittelpunkt. Die Schauspieler Emma Stone und Jonah Hill liefern dabei vielleicht die größten Leistungen ihrer Karriere ab, brillieren sie doch in so vielen unterschiedlichen Figuren unterschiedlicher Facetten in nur wenigen Serienstunden.

Nicht zuletzt ist «Maniac» spannend: Was hat es mit den mysteriösen Forschern auf sich, die die ABC-Pillen erfunden haben? Funktioniert das Experiment am Ende? Was für eine Bindung besteht zwischen Annie und Owen? Auch die großen Sinnfragen des Lebens werden subtil gestellt, natürlich, es geht ja um psychische Probleme. Schließlich ist «Maniac» dank der drei Pillen, ihrer unterschiedlichen Wirkungsweisen und der – vermeintlich heilsamen sowie irgendwie miteinander zusammenhängenden und deutbaren – Traum-Sequenzen ein komplexes Stück Serie. So manche Internet-Theorie macht sich bereits daran, die Serie zu deuten.

Nicht zufällig fühlt man sich auch deswegen ein bisschen an «True Detective» erinnert. Die Crime-Serie von HBO war eine der letzten großen Erzählungen der jüngeren Seriengeschichte, die so eine wunderbare (Ich-)Reise seelisch zerstörter Charaktere zeigte. Wie «True Detective» ist auch «Maniac» von Regisseur Cary Joji Fukunaga umgesetzt worden, und wie «True Detective» glaubt man auch bei dieser Geschichte, dass sie nachhallen wird. Es ist die große Serien-Überraschung des Jahres 2018.
04.10.2018 10:55 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/104235