Gute Serien, wenig Resonanz: Was macht Amazon (bewusst) falsch?

Trotz deutlich mehr Abonnenten erhält Netflix viel mehr Aufmerksamkeit als Amazon, auch trotz Serien-Hits wie «Goliath». Doch es steckt mehr hinter Amazons Strategie.

Vorbei scheint das Zeitalter der linearen Premium-Sender. Schon vor Jahren riefen Branchenbeobachter stattdessen den Streaming-Krieg aus, in dessen Rahmen Anbieter wie Netflix, Amazons Prime Video oder Hulu die Mediennutzer unter sich aufteilen. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom streamt schon jeder zweite Internetnutzer über kostenpflichtige Videoportale, gegenüber 29 Prozent im Vorjahr. Unter 14- bis 29-Jährigen setzt sogar bereits jeder Zweite auf Video-On-Demand-Dienste. Der Markt wächst und wächst also in Deutschland und die Marktforschungsgruppe Goldmedia will wissen, wer die Nase zurzeit vorne hat. Das überraschende Ergebnis: Amazon Prime Video, auf das rund 37 Prozent des Marktanteils im Streaming-Bereich entfallen. Netflix folgt mit knapp 34 Prozent dicht dahinter.

Dass Prime Video hierzulande den meistgenutzten Streaming-Dienst darstellt, macht bei näherer Betrachtung Sinn und ist im Wesentlichen auf das Geschäftsmodell Amazons zurückzuführen, wonach Kunden für den Dienst Amazon Prime im Schnitt 5,75 Euro monatlich zahlen und damit das Rundum-Sorglos-Paket erhalten: Serien und Filme sind dabei, aber auch Musik-Streaming, e-Books und nicht zuletzt der schnelle, kostenfreie Versand von Produkten aus Amazons Warenhaus.

Amazon vs. Netflix: Fast gleichauf, trotz vier Mal mehr Prime-Abonnenten


Über 100 Millionen Menschen weltweit beziehen laut Amazon-Gründer Jeff Bezos mittlerweile Prime, in Deutschland lag die Zahl schon vor zwei Jahren bei 17 Millionen. Vor einem Jahr zählte Netflix erst fünf Millionen Abonnenten. Blickt man auf die bloßen Kundenzahlen müsste Prime Video also einen noch deutlich höheren Marktanteil vorweisen können als Netflix. Tatsächlich lag der Marktanteil Amazons im Streaming-Bereich noch bei 40 Prozent, der von Netflix bei 29 Prozent, so die Daten von Goldmedia. Beide Dienste näherten sich seitdem also an. Wie kann das sein, angesichts deutlich mehr Kunden auf Seiten Amazons?

Das Problem am Paket: Amazon wird von der breiten Öffentlichkeit noch nicht als Anbieter und Produzent hochwertiger Serien und Filme wahrgenommen, sondern im Wesentlichen als Online-Versandhandel. Viele Prime-Kunden wissen nicht einmal um die Möglichkeit des Zugriffs auf die reiche Online-Mediathek, andere interessieren sich nicht dafür und schlossen das Abonnement wegen anderer Features ab. Aus PR-Sicht birgt dieser Umstand einen großen Vorteil für Netflix, das Amazon wohl bald als meistgenutzter Streaming-Dienst in Deutschland überholen wird. Netflix wird von der Bevölkerung einzig und allein mit Unterhaltungsprodukten assoziiert, mit einer breiten Auswahl qualitativ hochwertiger Serien und auch immer mehr eigenproduzierten Filmen. Amazon schreibt auch viele andere Schlagzeilen, weshalb es Prime Video weiter schwerfällt, sich in der öffentlichen Wahrnehmung als gleichwertiges Unterhaltungsangebot gegenüber Netflix zu etablieren.

Amazons Award-Erfolge

Die Original-Produktion «Transparent» gewann 2015 zwei Golden Globes, ein Jahr später gelang dies «Mozart in the Jungle» erneut. 2017 holte «Goliath» eine Auszeichnung und im Jahr 2018 kam Amazons «The Marvelous Mrs. Maisel» auf zwei Preise.
In Bezug auf ihr Angebot schenken sich Prime Video und Netflix dabei gar nicht viel. Netflix hat die breitere Auswahl an Serien, Amazon deutlich mehr Filme und insgesamt mehr Auswahl in seiner Mediathek. Netflix ist etwas nutzerfreundlicher, dafür müssen Abonnenten für Prime Video weniger zahlen. In den vergangenen Jahren erhielt Amazon im Serienbereich sogar mehr der begehrten Golden Globes als Netflix (siehe Info-Box). Der propagierte Streaming-Krieg zwischen Netflix und Amazon liest sich also komplett ausgeglichen, dennoch genießt Netflix gerade unter Serienfans ein deutlich größeres Ansehen.

Serienperlen wie «Goliath» erhalten kaum Aufmerksamkeit


Eine Amazon-Originalserie, die 2017 einen Golden Globe gewann, heißt «Goliath». Hauptdarsteller Billy Bob Thornton, der im Format den mit allen Wassern gewaschenen Billy McBride spielt, wurde für seine Darstellung mit der begehrtesten Trophäe der Serienwelt ausgezeichnet. Amazon verkündete nach Staffel eins, bei «Goliath» handle es sich um die meistgebingte Amazon-Serie aller Zeiten. Soll heißen: Innerhalb von zehn Tagen hatten Prime Video-Abonnenten zuvor nie eine Serie schneller fertig geschaut als das Anwaltsdrama. Kritikerhit, Zuschauerhit und auch noch preisgekrönt - trotzdem verloren Medien in Deutschland kaum ein Sterbenswort über das Format.

Damit steht «Goliath», dessen zweite Staffel am 15. Juni 2018 veröffentlicht wurde, exemplarisch für das, was bei Amazon derzeit noch falsch läuft. Sowohl in Staffel eins als auch in Staffel zwei erzählt «Goliath» die packende Geschichte eines alkoholkranken, von Weltschmerz geplagten Anwalts, der es als metaphorischer David mit den Großen und Mächtigen aufnimmt. Die Serie glänzt nicht nur durch großartige Darstellerleistungen um gestandene Mimen wie Billy Bob Thornton, William Hurt oder ab Staffel zwei Mark Duplass, sondern auch durch echtes emotionales Gewicht und einer einnehmenden Mischung aus Thrill und Drama, ohne dabei zu viel zu wollen.

Inhaltlich eher Hausmannskost, wurde «Goliath» hervorragend ausgeführt, was auch an den Machern liegt. Die Serie stammt von Jonathan Shapiro, einem ehemaligen Spitzenanwalt, sich in der Welt des Rechts bestens auskennt. Shapiro schuf unter anderem «Boston Legal», zusammen mit David E. Kelley, mit dem Shapiro auch im Rahmen von «Goliath» wieder zusammenarbeitete. Zurzeit gibt es wohl kaum ein heißeres Eisen in der Serienwelt als «Ally McBeal»-Macher Kelley, der 2017 mit «Big Little Lies» für HBO wohl die beste Serie des Jahres kreierte. Wieso fand «Goliath» trotz all dieser Facetten kaum Beachtung?

Amazon wirbt verhalten, aus ökonomischer Sicht aber effizient


«Bosch», «Transparent», «The Man in the High Castle», «Goliath», «Sneaky Pete», «You Are Wanted» oder «The Marvelous Mrs. Maisel». Prime Video könnte mit Stolz auf die Vielzahl an qualitativ hochwertigen Eigenproduktionen verweisen, die ja schließlich noch um eingekaufte Serienhits ergänzt werden. Doch Amazon bewirbt seine Serien zu verhalten, als dass um diese ein Hype entstünde. Während Netflix viel Geld für Werbung und PR ausgibt und auf den sozialen Medien ungemein präsent ist, wirkt Amazons Herangehensweise an die Bekanntmachung seiner Formate zuweilen eingestaubt bis desinteressiert. Häufig scheint Amazon zu hoffen, die Qualität seiner Produktionen spreche für sich und die Öffentlichkeit werde schon irgendwie zu den Produktionen finden. Damit verschenkt der Megakonzern auf den ersten Blick viel Potenzial.

Doch will das Unternehmen seine Strategie wirklich ändern oder genügt die aktuelle Vorgehensweise den Verantwortlichen vielleicht schon? Als Online-Warenhaus verfolgt Amazon eine andere Strategie als Netflix. Bei letzterem Dienst dreht sich alles darum, Interessenten mit hochwertigen Produktionen in ein Abonnement zu locken. Nur so nimmt Netflix Geld ein. Wie sollen sich aber die fünf Milliarden Dollar rechnen, die Amazon laut eigenen Angaben für Eigenproduktionen im Jahr 2018 investieren will, ohne dass um diese ein echter Hype entsteht wie etwa um Netflix‘ «Stranger Things», «Narcos» oder «House of Cards».

Wenn ein Neukunde ein Abonnement abschließt und als erstes sofort eine Amazon-Eigenproduktion anschaut, rechnet Amazon damit, dass der Neukunde das Prime-Abonnement abgeschlossen hat, um eine der Produktionen des Versandhändlers zu sehen. Zwischen Ende 2014 und Anfang 2017 sollen knapp fünf Millionen Nutzer eine Mitgliedschaft abgeschlossen haben, um Zugang zur Online-Mediathek von Prime Video zu erhalten. Das wären knapp ein Viertel aller Neukunden in besagtem Zeitraum. Gleichzeitig sollen laut einer Studie 46 Prozent aller Prime-Kunden mindestens einmal pro Woche im Amazon-Warenhaus einkaufen. Im Schnitt geben Prime-Kunden außerdem jährlich 1.300 Euro auf Amazon aus, fast doppelt so viel wie Nicht-Mitglieder.

Die Strategie ist klar: Der Streaming-Dienst Amazons dient dazu, neue Abonnenten zu gewinnen, aus denen dann zahlende Kunden werden sollen, die neben dem Serienkonsum auch Schuhe, Elektronik oder Möbel bestellen. Warum Amazon nicht mehr daran setzt, seine Serien bekannter zu machen? Weil die aktuelle Strategie Amazons genügt, um hochprofitabel zu sein. Vermutlich rechnen die Verantwortlichen damit, dass höhere Werbekosten für die Produktionen sich letztendlich nicht mehr rechnen würden als ohnehin schon. Stattdessen gibt das Unternehmen lieber mehr Geld für die Produktion und Akquisition neuer Formate aus. Zum Beispiel für die angekündigte «Herr der Ringe»-Serie. 500 Millionen Dollar soll diese kosten. Dafür wird die Serie wohl etliche Neukunden zum Abschluss eines Abonnements bringen – und einige davon wohl auch zum Shopping-Rausch in Amazons Warenhaus.
24.06.2018 11:10 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/101821