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Zwischen Overkill und Flaute: Die internationalen «ESC»-Vorentscheide

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Andere Länder, andere Sitten: Während mancherorts ein wochenlanger Hype um den nationalen Vorentscheid kreiert wird, bemühen sich andere Länder nicht einmal um eine große Show.

Konzept von «USfÖ»

  1. Alle acht Künstler stellen je einen Song vor. Das Publikum wählt vier davon in die nächste Runde.
  2. Die Halbfinalisten präsentieren einen zweiten Song. Das Publikum wählt unter den acht Songs die beiden stärksten für das Finale.
  3. Im Finale treten die beiden stärksten Acts gegeneinander an. Das Publikum wählt im direkten Duell den Teilnehmer für die «ESC»-Endrunde.
In wenigen Stunden wird der deutsche Teilnehmer beim «Eurovision Song Contest 2015» feststehen. Acht Solokünstler, Duos und Bands kämpfen in diesem Jahr um das begehrte Ticket nach Wien, wobei sich diesmal kaum ein Favorit ausmachen lässt. Der Norddeutsche Rundfunk knüpft in «Unser Song für Österreich» an das alles in allem gut durchdachte Selektionsprinzip des Vorjahres an (siehe Infobox) und kann in diesem Jahr auf ein abwechslungsreiches Teilnehmerfeld verweisen, bei dem kein Act einen allzu großen Popularitätsvorteil haben dürfte - im Gegensatz zum Vorjahr, als mit Unheilig eine der bekanntesten Bands des Landes ins Rennen ging. Anlässlich des deutschen Vorentscheids lassen wir den Blick in die Ferne schweifen und stellen einige Auswahlverfahren unserer Mitstreiter in Wien vor.

Doch zunächst noch ein Blick auf die Teilnehmerstatistik, wo sich auch in diesem Jahr wieder einiges getan hat. Erstmals seit 2011 stieg die Zahl der Gesamtzahl der mitwirkenden Staaten wieder, statt 37 treten diesmal 40 Staaten an. Für große mediale Aufmerksamkeit sorgte hierbei die Entscheidung der European Broadcasting Union (EBU), anlässlich des 60. Geburtstags erstmals - und dem Vernehmen nach auch einmalig - Australien einzuladen. Das Land ist nicht das erste außerhalb der europäischen Grenzen, das am «ESC» teilnehmen darf, allerdings hat die geografische Entfernung zu Europa durchaus historischen Charakter. Wohl nicht zuletzt deshalb wird es auch im Falle eines Sieges nicht Austragungsort des Wettbewerbs im kommenden Jahr sein. Mit Tschechien, Serbien und Zypern gibt es zudem drei Rückkehrer, wobei sich ersteres Land zuvor fünf Jahre lang eine Auszeit gönnte, die beiden letzteren hingegen nur eines. Aus finanziellen und politischen Gründen verzichtet hingegen die Ukraine erstmals seit 2002 wieder auf eine Teilnahme - als einzige Nation, die im vergangenen Jahr mitwirkte.

Große Show zum Vorentscheid? - Keineswegs selbstverständlich


Länder ohne nationalen Vorentscheid

Armenien, Belgien, Niederlande, Russland, Montenegro, San Marino, Tschechien, Aserbaidschan, Polen, Australien, Frankreich, Spanien und Großbritannien
Die vielleicht interessanteste Erkenntnis bei der Betrachung der Auswahlrituale anderer Staaten ist, dass ein Drittel von ihnen überhaupt keine große Show initiiert, um ihren «ESC»-Act auszusuchen. Wer jetzt gedanklich schon in Richtung Osten unterwegs ist, um die insgesamt 13 Staaten auszumachen, darf jedoch gerne wieder zurückkehren, denn ausgerechnet in der "Big Five" der großen Geldgeber ist die Quote mit 60 Prozent am höchsten. In Frankreich, Spanien und Großbritannien glaubt man an die Macht einer internen Auswahl fernab des großen Publikums und selbst Italien hat keinen originären Vorentscheid vorzuweisen, wie ihn sich der deutsche Zuschauer vorstellen mag. Stattdessen vertritt hier mit Il Volo der Sieger-Act des Sanremo-Festivals, einem bedeutenden nationalen Künstlerwettstreit, das Land. Damit machte Italien in den vergangenen Jahren durchgehend positive Erfahrungen: Zwischen 2011 und 2013 traten jeweils Kandidaten an, die im selben Jahr schon in Sanremo auftraten. Diese positionierten sich durchweg in den Top Ten, während im Vorjahr Emma Marrone intern ausgewählt wurde - und mit Platz 21 unterging. Allerdings hatte auch Marrone zuvor bereits die Luft des ligurischen Kurorts geschnuppert, zwei Jahre vor ihrem «ESC»-Auftritt gewann sie das Festival gar.

Das genaue Gegenbeispiel hierzu stellt Österreich, das zehn lange Jahre hintereinander entweder übel floppte oder gar nicht erst ins Rennen ging. Vorjahressiegerin Conchita Wurst hatte sich bereits 2012 dem Urteil des österreichischen Volkes gestellt, das sich allerdings denkbar knapp mit 51 zu 49 Prozent gegen sie und für die schon im Halbfinale völlig chancenlosen Trackshittaz aussprach. Nachdem der ORF im Vorjahr Wurst in Eigenverantwortung nach Kopenhagen schickte, kehrt in diesem Jahr der Vorentscheid unter dem Titel «Wer singt für Österreich?» zurück. An gleich vier Freitagabenden müssen insgesamt 16 Teilnehmer sowohl eine Fachjury als auch das Massenpublikum von sich überzeugen, bis am 13. März der Sieger feststeht. Weniger Aufwand betreibt hingegen Australien: Hier wird der Teilnehmer wie in den meisten großen Staaten schlicht durch eine interne Auswahl festgelegt.

Das «ESC»-Schlaraffenland: Schweden und das übrige Skandinavien


Mit besonders großer Hingabe veranstaltet Schweden auch in diesem Jahr wieder sein unter Fans längst zum Kult avanciertes «Melodifestivalen». Insgesamt 28 Teilnehmer treten zunächst in vier Halbfinals an, wobei sich die zwei jeweils Bestplatzierten direkt für das Finale qualifizieren, während die Plätze drei und vier in einer weiteren Show um die letzten verbleibenden Tickets für das zwölf Acts umfassende Finale kämpfen. Sechs Wochen lang zeigt der schwedische Sender SVT das Spektakel jeweils am Samstagabend, bis dann am 14. März der Teilnehmer des «ESC»-verrückten Landes feststeht. Die Erwartungen für Wien sind dabei überaus hoch: Seit 2011 positionierte sich Schweden drei Mal auf dem Treppchen, fünf Mal siegte man in der Geschichte des internationalen Musikwettbewerbs schon. Einer der Top-Favoriten ist Eric Saade, der bereits vor vier Jahren in Düsseldorf an den Start ging und Dritter wurde.

Aber auch die übrigen skandinavischen Länder legen immer wieder eine bemerkenswerte Passion an den Tag, wenn es um das Projekt Song Contest geht. So führte Norwegen jahrelang den «Melodi Grand Prix» mit drei Semifinals durch, deren jeweilige Sieger sich gemeinsam mit einem Wildcard-Gewinner der Jury in einer zusätzlichen Finalshow um die Teilnahme bei der Final-Show duellierten. In diesem Jahr hat sich das Land jedoch dazu entschlossen, sich auf eine große Show mit elf Künstlern zu beschränken. Auf eine wenig erfolgreiche Historie blickt derweil Finnland zurück, das seit 1990 nur Lordi als großen Erfolg vorweisen kann. Davon abgesehen positionierte man sich 15 Mal außerhalb der Top Ten, neun Mal misslang gar die Qualifikation für das Finale komplett. Dem Eifer des Landes tut dies allerdings keinen Abbruch: In der Show «Uuden Musiikin Kilpailu» (zu Deutsch: "Wettbewerb für neue Musik") gibt es insgesamt vier Ausgaben - drei Halbfinals und ein Finale. Als Gewinner dieses Wettstreits steht bereits jetzt die Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät fest, deren vier Mitglieder mit geistigen Behinderungen leben.

Als einziges Land kann Dänemark bislang auf gleich zwei Siege im neuen Jahrtausend zurückblicken: 2000 siegten die Olsen Brothers, 13 Jahre später setzte sich Emmelie de Forest gegen ihre Konkurrenz durch. Ganz so viel Liebe und vor allem auch Geld wie die großen Vertreter Skandinaviens setzt das Land allerdings nicht in seinen nationalen Vorentscheid «Dansk Melodi Grand Prix», wo seit 2009 immer an einem einzigen Abend aus zehn Interpreten der Sieger gewählt wird. Der Erfolg spricht alles in allem für dieses Konzept: Seither qualifizierte man sich stets für das Finale, einem Flop stehen vier Top-Ten-Platzierungen gegenüber. Und Island, das in den vergangenen Jahren stets verlässlich das Finale erreichte, dort aber zuletzt mit Platz 15 bis 20 nie recht überzeugte, lässt im Rahmen des «Söngvakeppnin» wie gewohnt in zwei Halbfinals und einem Finale über Triumph und Enttäuschung seiner Künstler entscheiden.


Und sonst so? - Weitere Fakten zu Künstlern und Vorentscheiden

1. Die albanische Sängerin Elhaida Dani musste nachträglich ihren Song ändern, da ihr ursprünglicher Titel von dessen Komponisten zurückgezogen wurde.

2. Anlässlich des 100-jährigen Gedenkens an den armenischen Völkermord trifft das Land eine sehr spezielle interne Auswahl: Neben einem Armenier sollen fünf weitere Musiker aus jedem Erdteil der Welt zur Gruppe Genealogy zusammengestellt werden. Der Titel des Songs "Don't Deny" (zu Deutsch: Leugne nicht") ist von politischer Brisanz, da einige Staaten - unter anderem die Türkei - den Völkermord bis heute nicht anerkennen.

3. Der Sieger des mazedonischen Vorentscheids, Daniel Kajmakoski, musste zunächst um seine Teilnahme bangen, da Betrugsvorwürfe aufkamen. Diese wurden zwar nach polizeilichen Ermittlungen bestätigt, doch die Manipulation des Zuschauervotings sei bei schwächer platzierten Kandidaten vonstatten gegangen, nicht bei ihm. Er darf Mazedonien vertreten.

4. Nach bemerkenswert starken Auftritten und Platzierungen in den beiden Vorjahren setzt die Niederlande ihr Konzept fort, mit nationalen Größen ins Rennen zu gehen. Trijntje Oosterhuis bekam bei der Komposition ihres Songs "Walk Along" Unterstützung von Anouk, die ihrerseits 2013 die achtjährige Flopserie mit einem starken neunten Platz beendet hatte.

5. Vier Mal hintereinander schied Israel zuletzt bereits im Halbfinale aus. Um das Quintett nicht komplett zu machen, ging der für die Künstlerselektion zuständige Sender IBA eine Zusammenarbeit mit dem privaten Produzenten Keshet ein, der mit «HaKokhav Ha'Ba» einen der größten Zuschauerhits der israelischen Fernsehgeschichte verbuchte - und anschließend in Deutschland als «Rising Star» gnadenlos scheiterte. Der Sieger Nadav Guedj darf sich nun in Wien versuchen.

6. Konzeptionell besonders schwer durchschaubar war die Vorentscheidung in Litauen, die sich über zehn Shows hinzog und in der Songs und Künstler separat ausgewählt wurden. Im Finale gingen schließlich drei Künstler an den Start - von denen sich kurioserweise zwei zu einem Act verbündeten. Vaidas Baumila und Monika Linkte setzten sich dann auch knapp gegen ihre einzige Konkurrentin durch.

7. Der kleine Inselstaat Malta nutzte seine Festivalbühne in der rund 5.000 Einwohner starken Stadt Marsa gleich doppelt: Zunächst als Austragungsort des bislang stets ohne deutsche Beteiligung durchgeführten «ESC»-Junior-Ablegers und wenige Tage später auch für den nationalen Vorentscheid.

8. Um bei der Junior-Ausgabe zu bleiben: Mit Michele Perniola und Anita Simoncini schickt San Marino in diesem Jahr zwei sehr junge Menschen ins Rennen, die sich in den vergangenen beiden Jahren wenig erfolgreich in der Junior-Version versuchten. Mit insgesamt 31 Jahren stellen die beiden das jüngste Duo der «ESC»-Historie. Ihr Lied soll am 13. März bekannt gegeben werden - vielleicht versucht sich ja mal wieder Ralph Siegel als Komponist.

9. Nach drei katastrophalen Flops und der anschließenden fünfjährigen Abstinenz versucht sich Tschechien diesmal mit großer Prominenz: Neben Vavlav Noid Barta geht Marta Jandova ins Rennen, die hierzulande bereits große Erfolge mit ihrer Band Die Happy feierte und zuletzt gemeinsam mit Revolverheld einen Top-Ten-Hit landete. Der gemeinsame Song "Hope Never Dies" wird allerdings erst am 10. März vorgestellt.

10. Zwei alte Bekannte, die in diesem Jahr abermals ins Rennen gehen, stehen bereits fest: Sowohl die maltesische Sängerin Amber als auch der weißrussische Kandidat Uzari hatten ihre jeweiligen Länder vor wenigen Jahren schon einmal vertreten - allerdings nur als Background-Sänger.

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