Die Kritiker

«Aidskrieg»

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Story


30 Jahre AIDS in Deutschland, die traurige Bilanz seitdem: Knapp 30.000 Menschen sind an der Epidemie gestorben. Die Dokumentation zeigt Geschichten vom Tod – aber auch vom Weiterleben. Es sind die Überlebenden eines Krieges, die im Mittelpunkt dieses Films stehen. Menschen im Ausnahmezustand, die sich engagiert haben, während ihre Partner, Familienangehörige oder besten Freunde mit dem Tode gerungen haben. Im Sommer 1981 berichten US-Magazine zum ersten Mal von „einer neuen Seuche“. Im Mai 1982 schreibt “Der SPIEGEL” das erste Mal über AIDS, und in Deutschland werden erste Fälle registriert. „Schreck von drüben“ lautet die Überschrift. Eine geheimnisvolle Krankheit wird beschrieben, die amerikanische Homosexuelle heimsuche. Als Ursache wird der „genusssüchtige Lebensstil“ angenommen. Drogen und Sex. „Vielleicht ist es die Lustseuche des 20. Jahrhunderts, nur nicht so harmlos“, heißt es. Ein Berliner Bakteriologe wird zitiert mit dem Satz: „Für die Homosexuellen hat der Herr immer eine Peitsche bereit.“ Angesichts der „drohenden Apokalypse“ werden Zwangsmaßnahmen gegen Schwule diskutiert. AIDS, so scheint es, könnte die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft erschüttern. Der SPIEGEL macht mobil und titelt ab 1982 unaufhörlich zum Thema und schürt Verunsicherung und Unruhe im Umgang mit der Krankheit: „Aids sei eine Epidemie, die erst beginnt“, heißt es dort.

Das Leben mit dem Virus war von Anfang an ein Stigma und ist es noch heute. „Dass die etwas an meine Tür hängen, wie einen Judenstern“, befürchteten Almut und Heinz-Dieter Niemeyer, ein Ehepaar, das sich fast 20 Jahre lang nicht traut, seinen Kindern von der Krankheit zu erzählen. Die Krankenschwester fiel bei einer Blutspende auf. Auch ihr Mann ist infiziert. Schauspielerin Jessica Stockmann musste ihrem Freund, dem Ex-Tennis-Profi Michael Westphal, auf dem Sterbebett versprechen, 10 Jahre zu schweigen. Noch vor wenigen Jahren verlangten Filmproduzenten von ihr vor dem Engagement einen HIV-Test. In der Dokumentation sprechen Menschen, die seit Jahrzehnten mit dem Virus leben. Politiker, die damals auf unterschiedlichen Seiten des Kampfes stehen. Rita Süssmuth, damals Gesundheitsministerin, erinnert die Zeit als den schlimmsten Kampf ihrer Karriere. Peter Gauweiler, ihr Gegenspieler aus Bayern, rechtfertigt seine Politik der harten Hand.

Kritik
«Der Aidskrieg» versetzt uns dreißig Jahre zurück, in die homophobe Gedankenwelt zu Beginn der 1980er Jahre, als der HIV-Virus erstmals aufkam und die gesamte westliche Welt jahrelang in Atem halten sollte. Der Film von Jobst Knigge erzählt von gesellschaftlicher Ächtung, von der Stigmatisierung von AIDS-Kranken und allen anderen uninfizierten Homosexuellen, Schwarzen und Strichern, vor denen sich die desinformierte und bigotte Öffentlichkeit ängstigte und sie deswegen mied.

Die Dokumentation macht dabei auch vor einer Anklage der damals handelnden Personen in Politik und Gesellschaft mit ihren widerlichen Thesen nicht Halt und illustriert damit treffend, wie es um Demokratie und Menschenwürde beim Umgang mit diesem Thema in der Bundesrepublik vor dreißig Jahren bestellt war. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger (heute Papst Benedikt, XVI – der Film hält es richtigerweise für notwendig, auf diesen Bezug hinzuweisen) sprach von „widernatürlichem Verhalten“ in Bezug auf die homosexuelle Lebensweise. Der damalige Kultusminister des Freistaats Bayern argumentierte ebenfalls in diese Richtung und setzte sich das Ziel, den „Rand der Gesellschaft“ (also die homosexuelle Subkultur) „dünner“ zu machen (mit anderen Worten: zu vernichten).

Mitarbeiter der AIDS-Hilfe berichten von Versuchen, in Kneipen als Präventivmaßnahme Kondome zu verteilen – was ihnen vom bayerischen Staat untersagt wurde. Von manchen Stellen gab es damals sogar Forderungen, AIDS-Kranke zwangsweise tätowieren zu lassen. Und um den KZ-Vergleich perfekt zu machen, wurde auch darüber diskutiert, Lager einzuführen (eine Idee, die in Schweden schließlich sogar umgesetzt wurde). Der Film führt all die Forderungen nach einem „starken Staat“, die eine Ideologie verraten, die vom Verbrecherischen nicht immer klar trennbar ist, gekonnt als das vor, was sie waren.

Im Sinne der Objektivität lässt man aber auch die Gegenseite zu Wort kommen, etwa Peter Gauweiler, den erzreaktionären Ex-Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, der der AIDS-Hilfe damals vorwarf, nach dem Prinzip „Schokolade für Zuckerkranke“ vorzugehen, da sie seine Ideologie des „starken Staates“ ablehnten und mehr auf Aufklärung und Prävention setzten. Gauweiler erhält in diesem Film die Gelegenheit, seine damaligen Äußerungen und Handlungen zu revidieren – und tut das überraschenderweise auch zum Teil.

Die Essenz dieser Dokumentation ist somit sehr gelungen. Dass die Narrative ab und an zu kleinteilig wird und der Soundtrack manchmal viel zu suggestiv ausfällt, lässt sich dabei allenfalls als Schönheitsfehler verbuchen.

Der WDR strahlt «Aidskrieg» am Mittwoch, den 16. November 2011, um 23.15 Uhr aus.

Kurz-URL: qmde.de/53227
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