360 Grad

Die Youtube-Neurotikerin

von
Julian Miller hat bei Youtube gesurft und ist auf den Vlog von Natalie Tran gestoßen, einer umwerfend komischen Australierin.

Das Leben eines Neurotikers ist nicht einfach: Ständig wird man verfolgt. Man leidet vom Epstein-Barr-Syndrom bis hin zum Rückenmarkschwund an sämtlichen Krankheiten, die in der Fachliteratur beschrieben sind. Und man analysiert jeden gesellschaftlichen Prozess und jede zwischenmenschliche Begebenheit zu Tode. Vor allem Intellektuelle und Satiriker oder jene, die beides miteinander vereinen, fallen in diese Kategorie: Woody Allen, Larry David, Harald Schmidt, David Letterman; die Liste scheint endlos.

Als Basis für eine Sitcom sind Charaktere dieses Typos eine nie versiegende Quelle herrlich abstruser Storylines. «Seinfeld» setzte die Wirren des amerikanischen Großstadtlebens in den neunziger Jahren fulminant in Szene, während «Curb your Enthusiasm» wie sein deutscher Ableger «Pastewka» oder die mittlerweile leider völlig in Vergessenheit geratene, exzellent geschriebene NBC-Serie «Committed» diese Tradition fortsetzten und «Arrested Development» sie zu völlig neuen Höhen hievte. Es ist frustrierend, dass solche Formate in Deutschland kaum Anklang finden. Doch dank DVD-Boxen ist dieses Problem mittlerweile nicht mehr so schwerwiegend wie noch vor rund einem Jahrzehnt. Und seit einiger Zeit gibt es sogar eine weitere Quelle für Filmchen, die sich mit dem alltäglichen Wahnsinn der zivilisierten Gesellschaft auseinandersetzen und neues Futter für alle Neurotiker und solche, die es werden wollen, bietet. Das Zauberwort heißt „Youtube“. Dort tummeln sich mittlerweile einige Vlogger, deren Produktionen in Aufwand und Ästhetik locker mit ähnlichen Angeboten großer Studios mithalten können und sie an Spritzigkeit und Kreativität nicht selten gar übertreffen.

Ein Beispiel gefällig? Sehen wir uns einmal den Youtube-Kanal „communitychannel“ an. Es handelt sich dabei um den Vlog von Natalie Tran, einer 24-jährigen vietnamesischstämmigen Australierin, die mit ihrer One-Woman-Show jede noch so trivial erscheinende Neurose und Kuriosität des Großstadtwahnsinns in Down Under aufs Korn nimmt. Ob Telemarketer, Peinlichkeiten unter dem Weihnachtsbaum oder Shampoo-Werbung. Nichts und niemand ist vor ihr sicher. Und vor sich selbst macht sie erst recht nicht halt. Sie wirkt ein wenig wie eine Sechsjähige, die eine Nacht in einem Spielwarengeschäft eingeschlossen ist, wenn sie mit den Klischees der typischen internetaffinen Nerdin spielt, die keine Freunde hat und deren Leben todlangweilig ist. Selbst verkörpert sie diesen Typos nicht im geringsten, aber ihn in ihrer gnadenlosen Selbstironie auf die Schippe zu nehmen, gefällt ihr sichtlich und ist herrlich anzusehen.

In einer wundervoll komischen „Stream of Consciousness“-Manier, die hier und da ein wenig an James Joyce erinnert, schippert sie zwischen ihrer Stand-up-Routine, in der sie die Widersinnigkeiten des Alltags pointiert analysiert, und deren Inszenierungen, in denen sie meist alle Rollen selbst spielt, hin und her. Neben ihrem Studium an der University of New South Wales, das sie vor kurzem abgeschlossen hat, und ihrem Job als Verkäufern, ist die Produktion von durchschnittlich drei solch professionell geschriebenen wie gedrehten Videos pro Woche ein Haufen Arbeit, der sich aber früher oder später bezahlt macht.

Im Internet kursieren Gerüchte, dass Tran an ihrem Vlog mittlerweile über einhunderttausend Dollar verdient hat. Ob dem so ist, sei dahingestellt. Doch nach ihrem Studium der Digitalen Medien hat sie nun mit ihrem Vlog ein umfangreiches Arbeitszeugnis vorzulegen, Berichte namhafter Zeitungen über sie als Referenzen inklusive. Auch erste Konzerne werden bereits auf sie aufmerksam. So wird sie nun etwa von dem Reiseunternehmen Lonely Planet auf eine viermonatige Welterkundungstour geschickt. Ihr einziger Auftrag: Dabei zu vloggen, dass die Schwarte kracht. Für Tran ist wohl nichts leichter als das.

Ob Tran irgendwann einmal den Sprung von Youtube in die Fernseh- und Filmwelt schaffen wird, bleibt abzuwarten. Zu wünschen wäre es ihr. Selten sieht man etwas derart Erfrischendes wie ihre Videos. Und einen beachtlichen Erfolg hat sie mit dem, was sie tut, bereits jetzt allemal. Sollten die Leserzahlen von 360 Grad je die Zuschauerzahlen von Trans Vlog übersteigen, so werde ich auch an dieser Stelle die „Porno Music/Comment Time“ einführen. Doch bis dahin müssen wir leider ohne dieses Feature auskommen.

Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.

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