Vor Ort

«Tatort Internet»: Wichtiges Thema falsch angepackt (Update!)

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In Berlin stellte der Sender RTL II sein neues, ambitioniertes Format gegen Kindesmissbrauch vor. Christian Richter war vor Ort, sah die ersten Bilder und erklärt, wieso die Sendung an ihrer Machart und dem Sender scheitern könnte.

„Dass es so etwas im deutschen Fernsehen geben würde, hätten wir niemals zu träumen gewagt.“ Mit diesen Superlativen stellte der Sender RTL II am Donnerstag sein neues Format «Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder!» effektreich in einer Berliner Schule vor. In zehn Ausgaben werden Kriminalisten, Experten, Psychologen und Journalisten das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern mithilfe des Internets thematisieren. Die erste Folge zieht der Münchner Sender sogar vor – zeigt sie ohne große Ankündigung schon am Donnerstagabend um 20.15 Uhr. Laut Jochen Starke, dem Geschäftsführer des Senders, wartet „der Böse Mann nicht mit einer Tüte Bonbons auf dem Spielplatz, sondern schon im Kinderzimmer.“ Genau dort setze die neue Reihe an und präsentiert dokumentarisch aufbereitete, echte Fälle, bei denen Jagd auf die Täter gemacht wird, aber auch die Opfer zu Wort kommen sollen. Dazu haben sich die Macher, wie ein 20-minütiger Presseteaser zeigte, selbst als 13-jähriges Mädchen in Chatrooms ausgegeben, so potentielle Täter angelockt und diese vor der Kamera überführt.

Unterstützt wurde die Produktion von der Organisation „Innocence in Danger“, die sich seit Jahren der Bekämpfung des sexuellen Missbrauch von Kindern widmet. Laut deren Geschäftsführerin Julia von Weiler würde die alltägliche Bedrohung von Kindern durch sexuelle Belästigung im Internet ein immer größeres Problem werden. Doch die Scham der Opfer wäre noch zu groß. „38 Prozent aller Kinder wurden schon einmal mit sexuellen Inhalten konfrontiert, aber nur acht Prozent reden darüber, weil sie sich schämen“, zitierte die Geschäftsführerin eine Statistik. Das Internet habe eine neues soziales Gefüge aufgebaut, in dem erwachsene Menschen auf unbedarfte Kinder treffen und sich ihnen berechnend, tückisch und geschickt nähern würden. Sie versuchten eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen, um sie dann meist bei einem anschließenden Treffen körperlich zu missbrauchen. „Kinder sind egal, wie gut vorbereitet, den Strategien von Erwachsenen immer unterlegen“, mahnte von Weiler an. Daher wäre es wichtig die Gesellschaft über solche Vorgänge aufzuklären.

Als prominente Paten konnte der Sender den ehemaligen Polizeipräsidenten und Innensenator Hamburgs Udo Nagel gewinnen, der die Sendung entgegen anderen Pressemeldungen moderieren wird. Steif und ungelenk, wie die Vorschau zeigte. Er nutzte die Chance für ein ausgiebiges Plädoyer für eine umfassende Vorratsdatenspeicherung, eine Registrierpflicht bei Chatseiten und stärkeren Eingriffen bei Kreditkartenunternehmen. An seiner Seite wird Autorin Stephanie zu Guttenberg in der ersten Ausgabe zu sehen sein. Die Ehefrau des Bundesverteidigungsministers stieg mit der aktuellen Ausgabe der Bild-Zeitung auf das Podium, die mit ihrem Engagement in der Sendung titelte. „Es sind diese Schlagzeilen, die wir brauchen. Es sind die Kameras der Welt, die wir brauchen. [...] Für unsere Kinder. Für unsere Gesellschaft“, kommentierte sie die neue Reihe.

Solche ermutigenden, starken und bewegenden Worte kamen nur von den Beteiligten des Formats, nicht jedoch von den Vertretern des Senders RTL II. Auch wenn die Geschäftsführerin der verantwortlichen Produktionsfirma Danuta Harrich-Zandberg davor warnte, die Berichterstattung über die neue Reihe an den Konfrontationen oder dem Sender aufzuhängen, sind es genau diese Punkte, die das durchaus ambitionierte Projekt nur schwer glaubwürdig erscheinen lassen. Der gezeigte Fall war ohne Zweifel erschreckend und die Perversität des Täters nur schwer zu ertragen. Doch erinnerte der Ausschnitt an eine Mischung aus «Autopsie» und «Cheaters» und nahm den Ereignissen ihren tatsächlichen Schrecken. Der Beitrag war schnell und hektisch geschnitten und permanent mit überdramatischer Musik unterlegt. Es hatte den typischen, krawalligen RTL II-Look. Seriosität, wie sie die Verantwortlichen vermitteln zu versuchten, war in der Sendung nicht zu erkennen. Die Macher rechtfertigten die Notwendigkeit einer solchen Umsetzung damit, die Zuschauer auf diese Weise am Wegschalten zu hindern. Zudem sei die extreme Dramatik in den Beiträgen den dramatischen Empfindungen der Opfer nachempfunden. „Es geht uns nicht um das reißerische“, versicherte zu Guttenberg ausdrücklich. Doch anhand der gezeigten Bilder erscheint diese Aussage wenig glaubhaft. Da hilft auch die Behauptung des Moderators nicht, dass die Entscheidung für die Umsetzung ausschließlich innerhalb der Produktionsfirma getroffen und nicht vom Sender vorgegeben wurde. Am Ende wird der Zuschauer ein Magazin präsentiert bekommen, dass sich nahtlos in die Krawall-Dokus des Senders einreiht. Egal wie relevant das Thema auch sein mag.

Auch der vorgezogene Start des Programms auf den 07. Oktober ist mehr als unglücklich, denn so bestand kaum eine Möglichkeit auf das Projekt hinzuweisen. RTL II-Geschäftsführer Starke begründete diese spontane Entscheidung mit der Angst vor baldigen einstweiligen Verfügungen, die eine spätere Ausstrahlung verhindern könnten. Wenigstens läuft die erste Ausgabe dadurch werbefrei über den Schirm.

Es wird sich auch als unklug erweisen, der Presse wichtige Details erst am Ausstrahlungstag mitgeteilt und nur die Bild-Zeitung vorab ausführlich informiert zu haben. Andere Tageszeitungen deuteten bereits an, sich übergangen zu fühlen und werden dies sicher an der Sendung auslassen. Letztendlich konnte damit nur die größte Boulevardzeitung vorab Werbung für das Projekt machen. Ob dies jedoch der richtige Partner für ein derart seriöses Anliegen ist, bleibt fraglich.

Und selbst wenn man die Umsetzung des Formats billigt, werden sich die Macher vorwerfen lassen müssen, mit dem Sender einen ungeeigneten Partner gefunden zu haben. Nicht nur, dass der Eindruck entsteht, dass dieser eher an der Aufmerksamkeit der Reihe und nicht an deren wichtigem Inhalt interessiert ist, sondern auch die miserable Pressearbeit und Programmplanung könnte dem Format zum Verhängnis werden. Undenkbar sind zudem die künftigen Werbeunterberechungen, die mit den Worten „It’s fun“ und einem Lady Gaga-Song mit dem Text „I Wanna Take A Ride On Your Disco Stick“ unterlegt sind.

Es ist wirklich schade um das zweifelsfrei wichtige und relevante Projekt, doch so wie es präsentiert wurde, wird es kaum den gewünschten und nötigen Erfolg erzielen können. Wie ernst die Presseabteilung von RTL II das Schicksal von Kindern tatsächlich nimmt, wurde deutlich, als die Kinder der Schule vermehrt an die verschlossenen Türen hämmerten. Frau Harrich-Zandberg schlug vor sie hineinzulassen, weil es schließlich um sie gehen würde, doch die Türen blieben verschlossen, bis die Kinder irgendwann verstummten.

Update:


Nach Ansicht der kompletten ersten Folge, muss festgehalten werden, dass die Sendung auch etwas zurückhaltendere Momente beinhaltete, die vorab nicht gezeigt wurden. Die Wahl des auf der Pressekonferenz gezeigten Ausschnitts war daher unglücklich und unterstreicht, dass RTL II durchaus auf den „reißerischen“ Effekt des Formats zu setzen scheint. Doch auch nach Kenntnis einer vollständigen Ausgabe bleibt der bittere Beigeschmack, dass das Thema durch die billigen Schockeffekte und die taktlose Inszenierung schlicht verdrängt und überlagert wird.

Mag sein, dass sich durch die aufdringliche Umsetzung RTL II-Zuschauer anlocken lassen, doch viele andere könnte dieser Stil verschreckt haben. Die Alternative muss nicht gleich eine langatmige Dokumentation im Stil von arte sein. Zwischen diesen beiden Varianten gibt es Schattierungen, von denen eine dem Format und dem Thema besser zu Gesicht gestanden hätten. Die Beiträge und Reality-Formate beim Schwesternsender RTL sind beispielsweise dezenter verpackt und locken trotzdem ein großes, junges Publikum ab.

Um das abschließend eindeutig klar zustellen. Es ist lobenswert und wichtig, dass dieses heikle Thema endlich einmal breit angesprochen wird und eine mediale Präsenz bekommt. Man hätte sich nur etwas mehr Ernsthaftig- und Nachhaltigkeit wünschen können, um die von allen Vertretern geforderten Veränderungen zu erreichen. Der anfängliche PR-Sturm wird bald verflogen sein und es bleibt ein (optisch) austauschbares Magazin zurück, das im Fernsehprogramm unterzugehen droht.

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