Die Kritiker

Die Kino-Kritiker: «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte»

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«Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» ist die neuste Dokumentation von Michael Moore. Quotenmeter verrät, was man zu erwarten hat.

1989: Der bislang unbekannte Journalist Michael Moore stellt mit «Roger & Me» die Welt des Dokumentarfilms auf den Kopf. Mit unverschämter Ehrlichkeit und beißendem Witz behandelte Moore, welche Auswirkungen die Schließung mehrerer General-Motors-Fabriken auf seinen Heimatort Flint, Michigan hat. «Roger & Me» wurde Amerikas erfolgreichste Dokumentation aller Zeiten.
Seine Abrechnung mit dem Waffenwahn in Amerika, der Oscar-prämierte Dokumentarfilm «Bowling for Columbine» aus dem Jahr 2002, machte Moore schließlich einer breiten Öffentlichkeit außerhalb der USA bekannt. Sein Buch «Stupid White Men» stürmte weltweit die Bestsellerlisten, «Fahrenheit 9/11», eine filmische Kritik der Regierung unter George W. Bush, wurde zur erfolgreichsten Dokumentation aller Zeiten und selbst der in hiesigen Gefilden weniger relevante Dokumentarfilm «Sicko» über das marode Gesundheitssystem Amerikas lockte zahlreiche Interessierte in die Kinos.

Mit «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» schließt sich für Michael Moore der Kreis. Erneut beäugt er, welche tragischen Folgen die Geldgier großer Konzerne für die US-amerikanische Mittelschicht hat. Anders als bei «Roger & Me» begnügt sich Moore allerdings nicht mit dem Feindbild General Motors, und das Schlachtfeld ist deutlich größer als das Städtchen Flint.
Passend zur Wirtschaftskrise greift Moore den Kapitalismus an.

Die passionierte Kapitalismus-Lehrstunde eröffnet mit einer Warnung: Der Film sei nichts für junge Kinder oder Menschen mit Herzproblemen. Obwohl dies wieder einer von Michael Moores berühmten, das Filmthema auflockernden, Scherzen ist, so kann man die Warnung schon ein wenig ernst nehmen. Amerikas Erkonservative dürften während dieses Films ebenso Bluthochdruck erleiden, wie schnell erzürnbare Vertreter der Mittelschicht.
Erstere werden Moores polemische und marktschreierische Darstellung verteufeln, zweitere dagegen werden von den gezeigten Einzelschicksalen an den Rand eines Wutanfalls getrieben.
Denn mehr noch als in «Sicko» konzentriert sich Michael Moore in «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» auf die Darstellung exemplarischer Einzelschicksale. So zeigt er das Heimvideo einer Familie, die von der Polizei aus ihrem Haus gejagt wird, weil es früher als zuvor angekündigt zwangsgeräumt wird.
Wenn Moore keine Opfer des Wirtschaftssystems vorstellt, befragt er katholische Priester und Wirtschaftsexperten über ihre Meinung zum Kapitalismus. Der Guerilla-Techniken anwendende Michael Moore, wie man ihn aus «Bowling for Columbine» kennt, ist dagegen weniger zu sein.

Ganz ohne Moore, der Leute mit absurden, kritischen Aktionen nervt oder unangemeldet irgendwo hereinspaziert und fiese Fragen stellt, kommt «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» allerdings nicht aus. Und das ist auch gut so, schließlich erwartet man dies von einer Moore-Dokumentation ebenso wie witzige Spielereien mit Archiv-Filmmaterial.

Wer mit «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» eine nüchterne sowie objektive, rein faktische Beleuchtung des US-amerikanischen Wirtschaftssystem erwartet, befindet sich im falschen Kinosaal.
Michael Moore macht seit jeher keine klassischen Dokumentarfilme, sondern subjektive Essays, in denen er der Welt seine Ansichten präsentiert und sie somit konsequenterweise mit subjektiv ausgewählten Beispielen untermauert. Moore möchte niemandem ermöglichen, sich anhand eines neutral geschilderten Bildes seine eigene Meinung bilden zu können, er möchte das zu weiten Teilen einseitig informierte Amerika mit von seiner Meinung überzeugen. Sobald man Moore als Filme machenden Essayisten begreift, kann man seinen Stil viel mehr genießen. Zwar ist «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» aufgrund des erwähnten Fokus auf vom Kapitalismus gebeutelte Einzelpersonen wesentlich ernster als noch «Bowling for Columbine» oder «Fahrenheit 9/11», die eingestreuten satirischen Elemente fühlen sich dennoch nicht deplaziert an.
Genau genommen hätten es sogar ein paar mehr sein dürfen, denn immer wenn Moore seinem Ruf als Provokateur gerecht wird und Amerika einen bitterbösen Zerrspiegel vor's Gesicht hält, kommt die politische Ambition des Filmemachers am stärksten zum Vorschein. Mal ganz davon abgesehen, dass sie dank des hervorragenden Timings Moores und seiner ausgeprägten Ungeniertheit urkomisch sind.

Zu den Höhepunkten von «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» gehört ebenfalls der kurzweilige sowie informative Geschichtsunterricht über die Entwicklung der freien Marktwirtschaft in den USA, inklusive leicht verständlicher Erläuterung der derzeitigen Wirtschaftskrise. Die persönlichen Episoden, so dramatisch und schockierend sie auch sein mögen, werden dagegen auf Dauer etwas zäh.

Michael Moore, der nach eigenen Aussagen nun ins fiktive Fach wechseln möchte, drehte mit «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» sein reifstes Doku-Essay. Es ist dramatisch, spannend, witzig und selbst wenn es nicht als wissenschaftliche Analyse der freien Marktwirtschaft dienlich ist, so bietet es eine leicht verständliche und anregende Übersicht der Thematik. Ironischerweise ist «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» trotz der zahlreichen gezeigten Einzelschicksale weniger persönlich als Moores bekanntesten Dokumentationen, was wohl daran liegen könnte, das Moore hier gegen einen abstrakten, unfassbaren Gegner wettert.

«Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» ist derzeit in einigen deutschen Kinos zu sehen.

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